Beim Boxlacrosse geht es zur Sache. In Hannover kämpfte die deutsche Mannschaft um die Europameisterschaft. Einige der Schlüsselspieler sind Soldaten. Eine Story aus „Y-Das Magazin der Bundeswehr“.

Autor: Markus Tiedke

Matthias Lehna in der Verteidigung beim Viertelfinale gegen Schottland während der Europameisterschaft 2022 in Hannover. (Foto: Sebastian Wilke)

Es ist Ende Mai. In der Dresdener Joynext Arena steht das Finale des Nations Cup im Boxlacrosse an. Deutschlands Nationaltrainer Jesse Cracknell stimmt sein Team auf die bevorstehende Begegnung mit der tschechischen Auswahl ein. „Es ist nichts Neues, Jungs“, sagt der Kanadier auf Englisch. „Chop wood. Carry water.“ Das ist der Titel eines buddhistisch inspirierten Büchleins, das der Coach seinen Leuten zum Lesen gegeben hat. Im Kern handelt es davon, wie man seine Ziele erreicht. Nämlich, indem man den Weg dorthin als Erfüllung begreift – der Weg ist das Ziel. „Tue das, was du kontrollieren kannst, und mache es gut“, sagt Cracknell. Und: „Stay calm. Stay focused. It’s as easy as that.“ So weit die Theorie.

Im Endspiel gegen den Erzrivalen Tschechien läuft es dann nicht so gut. Keine dreißig Sekunden brauchen die Tschechen für das erste Tor. Fünf Minuten nach Anpfiff liegen die Deutschen 3:0 hinten. Mit ein paar guten Aktionen arbeitet sich das Team zwar an den Gegner heran. Aber es ist wie verhext, die Tschechen halten den Abstand. Ein Einbruch zu Beginn des letzten Viertels beerdigt schließlich alle Hoffnungen. Innerhalb weniger Minuten treffen die Tschechen viermal. Am Ende geht die Trophäe an den Angstgegner. Mal wieder.

Eine Sportart auf dem Vormarsch

 

Lacrosse war schon einmal olympische Disziplin. In Kanada, wo es von Ureinwohnern erfunden wurde, gilt es gar als Nationalsportart. Dort und in den USA gibt es professionelle Ligen, an den US-Colleges ist der Sport verbreitet. In Europa ist Lacrosse weniger bekannt, aber seit einiger Zeit auf dem Vormarsch. An der Universität der Bundeswehr in München kam Box-Lacrosse vor etwa 15 Jahren in Mode. Das ist auch der Grund, warum immerhin fünf Mann im Nationalkader aktive oder ehemalige Bundeswehrsoldaten sind. So wie Hauptmann a. D. Philipp Broz. Der 33-Jährige war mal Technischer Offizier in einem Luftwaffengeschwader und ist heute Kapitän der Offensivabteilung. „Ich habe mich damals an der Uni während eines Turniers in diesen Sport verliebt“, sagt er. „Lacrosse ist schnell und körperbetont. Ich liebe es. Und mal ehrlich: Wo hast du eine reelle Chance, selbst Nationalspieler zu werden?“

Tatsächlich ist die Lacrosse- Community in Deutschland noch klein. Etwa 3.000 Spielerinnen und Spieler sind derzeit bundesweit in Vereinen organisiert. Tendenz steigend. Der Deutsche Lacrosse Verband (DLaxV) arbeitet daran, den Sport hierzulande bekannter zu machen. Boxlacrosse – bislang weitgehend eine Männerdomäne – eignet sich als Format gut für Fernsehübertragungen. Denn die Variante ist schnell und spektakulär. „Wir hoffen, dass Lacrosse ab 2028 wieder olympisch wird“, sagt Broz. Dann könnte der DLaxV in den Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) eintreten. Dies wiederum würde es sehr erleichtern, finanzielle Unterstützung zu bekommen und professionell Talente zu fördern. Vor allem aber dürften die National- spieler dann endlich ganz offizell den Bundesadler tragen.

Lacrosse ist schnell und körperbetont. Ich liebe es.

Philipp Broz

Teamcaptain

Vorläufig ist das noch Zukunftsmusik. Ende Juli sitzen die Hauptleute Florian Heller und Matthias Lehna beim Frühstück in einem Hannoveraner Hotel. Seit einer Woche ist die Nationalmannschaft hier und bereitet sich auf die Europameisterschaft vor. Auch Heller ist Technischeroffizier der Luftwaffe und spielt im Nationalteam als Angreifer. Lehna, gelernter Gebirgsjäger und Chef vom Dienst bei Y, steht in der Mannschaft in der Abwehr. Sein Spitzname: Oger. Das Hotel mitten in einem Gewerbegebiet hat so gar nichts mit den Nobelressorts gemein, in denen etwa die Fußball-Nationalspieler des DFB absteigen. „Bei uns läuft ganz viel über privates Engagement und Solidarität“, sagt Heller geradeheraus. Finanziell ist beim Nationalteam nichts zu holen. Es gibt weder Bezahlung noch Prämien. Im Gegenteil: Wie alle Team- kameraden hier zahlt Heller gut 2.500 Euro für die Teilnahme an der EM in die Mannschaftskasse ein. Das Geld geht dann für die Unter- bringung im Doppelzimmer und für die Fahrtkosten drauf.

Auch die vorigen Trainingslager haben die Sportler selbst bezahlt, ihre Ausrüs- tung sowieso. Und sie zahlen für die Unterkunft ihrer Coaches ebenso aus eigener Tasche wie für die gemieteten Eistonnen nach Spielende. Sponsorenunterstützung ist rar. „Ohne Herzblut geht da nichts“, sagt Lehna. Auch Chefcoach Cracknell arbeitet seit 2015 ehrenamtlich. Meist zahlt der Kanadier sogar seine Flüge über den Großen Teich. „Dabei ist der Mann ja der Bundestrainer!“ Lehna muss kurz lachen bei dem Gedanken. „Aber die Unterstützung durch unsere Community ist super. Mit Crowdfunding wurde schon mehrfach Geld gesammelt. Auch auf Vereinsebene.“ Keiner hier hätte etwas gegen ein dickes Verbandskonto einzuwenden. Aber Lehna und seine Teamkollegen wissen, wie die Dinge stehen. „Fußball kennt jedes Kind, Boxlacrosse ist die Nische in der Nische“, sagt Lehna.

 

Keine netten Jungs mehr

Am Abend gibt es ein Wiedersehen mit den Titelfavoriten aus Tschechien. Bei der Eröffnungsfeier zuvor sind vierzehn Nationen mit ihren Fahnen durch die Eishockeyhalle von Mellendorf marschiert. Eine zugige Ersatzhalle, denn der eigentlich geplante Austragungsort in Hannover stand kurzfristig wegen Renovierungsarbeiten nicht zur Verfügung. Also geht es nun in einem Vorort der niedersächsischen Landeshauptstadt zur Sache. Zu allem Überfluss sind hier ein paar Tage vor Beginn des Turniers die Umkleidekabinen bei einem Rohrbruch abgesoffen. Die Spieler ziehen sich in einem hastig errichteten Bierzelt um, das auch zum Materiallager erklärt wurde. Primitive Verhältnisse, die den Spielern am Ende aber herzlich egal sind. „Wichtig ist, dass wir einen Rink haben“, sagt Philipp Broz und prüft seinen Stick. „Dass wir fit sind und dass wir umsetzen, was unsere Coaches sagen.“ In seiner Ansprache am Vormittag hatte der ehemalige Goalie Cracknell seine Jungs auf das Spiel eingeschworen. Die zentrale Botschaft: Seid ein harter Gegner. Nette Jungs kann hier keiner gebrauchen.

Dann geht es doch wieder los wie in Dresden zwei Monate zuvor. Die Deutschen rennen, die Tschechen punkten. Erstes Tor nach drei Minuten, zweites Tor kurz darauf. Bislang konnte das Team noch nie gegen die Tschechen gewinnen. Aber heute ist etwas anders als im Mai. Das Publikum feuert die Deutschen frenetisch an. Trommeln, Rasseln und Sprechchöre wie beim Fußball, die Fans brüllen sich heiser. Und die Deutschen kämp- fen um jeden Ball. Beim Lacrosse sind Checks erlaubt. Schläge auf den Stick auch. Lehna und seine Jungs von der Defense nutzen das voll aus und rücken den Tschechen eng auf die Pelle. Die gegnerischen Schlüsselspieler werden pausenlos gecheckt. Die Deutschen sind richtig eklig. Keine netten Jungs. Die Tschechen bleiben die Antwort nicht schuldig. Aber es zeigt sich: Der Gegner hatte sich das heute anders vorgestellt.

Es knallt gewaltig, als Lehna einen tschechischen Offensivspieler in die Bande reibt. Am Ende des ersten Viertels geht die deutsche Mannschaft erstmals in Führung. Der Gegner verliert den Faden. Frustfouls und Auszeiten häufen sich, es ist ein extrem nickliges Spiel. Zu Beginn des letzten Viertels fordert das Powerplay seinen Tribut. Die Tschechen punkten sich langsam heran. Nur ein paar Minuten vor Schluss gelingt ihnen erst der Anschlusstreffer und dann der Ausgleich. Kollektives Entsetzen bei den Fans, Jubel auf den spärlich besetzten Bänken der Gäste. „Unsere Drei-Tore-Führung weg, plötzlich alles wieder auf null. Keiner hatte Bock, das Ding kurz vor Schluss zu verlieren“, sagt Broz später. Es sind noch anderthalb Minuten auf der Uhr, als er sich die Kugel schnappt und auf das gegnerische Tor zuläuft. Zwei Verteidiger lässt der Angreifer aussteigen, dann zieht er ab. „Ich wusste, dass der Goalie links schwächer verteidigt. Und dort war auch die Lücke. Ich habe es einfach versucht – und mich dann gefreut wie ein kleines Kind.“

Der Ball ist drin und die Jungs bringen die knappe Führung über die Zeit. 12:11, Auftaktsieg und endlich gegen den Erzrivalen gewonnen. Der Jubel ist unbeschreiblich, es fühlt sich fast an wie der Titel. Cracknell bringt die Männer wieder auf den Boden der Tatsachen: „Gutes Spiel, Jungs. Aber noch nichts entschieden. Weitermachen. Chop wood. Carry water.“ Das deutsche Team kommt immer besser ins Turnier. Zweites Gruppenspiel gegen die Slowakei: 12:8 – ein harter Arbeitssieg. Im dritten Spiel putzen sie Polen mit 12:5 weg. Deutschland siegt in einer starken Gruppe. „Im Viertelfinale haben wir uns gegen die Schotten warm geschossen“, wird Lehna später über den 18:7- Sieg sagen. „Da ist der Knoten geplatzt, und die Maschine kam ins Rollen.“ Starke Finnen warten im Halbfinale und werden mit 14:8 vom Platz gefegt. „Die haben keinen Stich gesehen“, sagt Heller stolz. Leider verletzt sich der Angreifer in diesem Spiel und fehlt dann im Finale. Dort wartet England mit einem Team von Profis aus den nordamerikanischen Ligen. Collegeboys zumeist, die zwar englische Wurzeln haben, aber selbst gar nicht in England leben. „Ein anderer Ansatz als bei uns. Wir setzen auf Eigengewächse. Leute, die in Deutschland verwurzelt sind. Auch die Tschechen und Finnen machen das so wie wir“, sagt Lehna. Einzige Ausnahme: Deutschlands Langzeit-Goalie seit 2015, Craig Wende, ist ein kanadischer Staatsbürger mit deutschen Vorfahren.

 

Ein kräftezehrendes Ende

Finale ist, wenn die winzige Ersatzhalle von Mellendorf an einem Samstag im August mit dreieinhalbtausend lärmenden Supportern aus allen Nähten platzt. Finale ist, wenn sich das deutsche Team dort zwei Stunden lang brutal den Arsch aufreißt. Und Finale ist auch, wenn sie hinterher mit rotgeweinten Augen den Engländern zusehen müssen, die im Rink ihren Triumph, den EM-Sieg, feiern – 8:11. „Wir haben eine Wahnsinns-EM gespielt“, sagt Lehna ein paar Tage später. „Ich bin froh um die Erfahrung, und das geht den anderen Jungs auch so. Wir waren eine richtige Mannschaft.“ Die Leere danach habe eine Weile angehalten. „Erst dann merkt man, wie kräftezehrend das Turnier war.“ Für viele der Stammspieler geht die aktive Zeit im Team zu Ende. Die meisten der Soldaten stehen vor dem Wechsel ins Zivilleben. Mit einem Altersschnitt um die dreißig gehörte die deutsche Auswahl zu den älteren im Turnier. Auch das Trainerteam hört nach mehr als acht Jahren des gemeinsamen Weges auf. Viele Abschiede, viele Tränen. Lehna richtet den Blick nach vorn. „Wir haben hier ein starkes Zeichen für unse- ren Sport gesetzt. Und wir haben viele Talente, die sich in dieses Team einfügen werden. Die werden noch besser spielen als wir.“ Und auch für den Nachwuchs wird dann gelten: Chop wood. Carry water.

Die Stimmung war während der Spiele der Nationalmannschaft in der Wellblech Halle in Mellendorf bei Hannover hervorragend. (Foto: Marek Stor)

Vor über 3.000 Fans spielte die Nationalmannschaft in einem packenden Finale gegen England. Das Sommermärchen beendete die Mannschaft als Vize-Europameister. (Foto: Marek Stor)